«... je älter ich geworden bin, je mehr habe ich
mich überzeugt, wie notwendig es ist, sich einen weiten
Blick zu erhalten und weder im Spezialistentum noch im
alten Wissensbesitz fest zu sitzen.« (1)
Zunächst aber hatte die spätere Honorar-Professorin
des Kunsthistorischen Institutes, Lilli Martius, »vor
der Universität soviel Respekt, daß [sie] auf das
Hören von Vorlesungen [...] von vornherein verzichtet.«
Stattdessen konzentrierte sich die Tochter des Kieler
Ordinarius für Philosophie, Götz Martius, entsprechend
einer »höheren Tochter« auf Privatunterricht im
Zeichnen. Daran schloß sich der Besuch der 1905 in Kiel
von Georg Burmester (1864–1936) und Fritz
Stoltenberg (1855–1921) (2) gegründeten Privatakademie für
Malerei an. Durch diese Malschule erhielt Lilli Martius
die Möglichkeit zur Teilnahme an einem Kursus für
Lithographie bei dem Hamburger Maler Ernst Eitner
(1867–1955), wandte sich jedoch zwecks Erlernung der
Radiertechnik 1907 nach Berlin, obwohl die Ateliers der
Hauptstadt in Kiel als »gefahrvoller Ort der
Sittlichkeit« galten.
Die eigentlich in Frage kommende Schule des »Vereins
Berliner Künstlerinnen« war nach Worten Lilli Martius'
durch den Weggang von Käthe Kollwitz (1867–1945) (3) uninteressant
geworden – sie fand sich stattdessen in einem
»bunten Gemisch weiblicher und männlicher Schüler
[...], richtiger Originale« wieder: »im Atelier des
Malers Max Jordan«. Die von ihr beabsichtigte
Vervollkommnung in der Technik des Radierens konnte sie
erst bei zusätzlichen Nachmittagsbesuchen in einer
Werkstatt für Reproduktionsgraphik bei dem Radierer und
Kunstschriftsteller Hermann Stuck (1876–1944)
erreichen.
Neben den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges war es
vermutlich gerade diese Berliner Zeit, die durch Kontakte
zu anderen Künstlern und Künstlerinnen sowie durch
öffentliche Veranstaltungen (z.B. 1912 der Kongreß der
Frauen in Berlin) ihr politisches Bewußtsein um 1918
bestimmten: »Es war mir eine wichtige Sache, daß die
Frauen nun wahlberechtigt wurden. Ich kam trotz einiger
Zweifel an der Zweckmäßigkeit dieser Einrichtung doch
zu dem Entschluß, daß es richtig sei, als Frau zu
wählen« (4).
In ihrem Selbstverständnis als Künstlerin und
Kunsthistorikerin sollten die Fragen der Emanzipation nur
eine untergeordnete Rolle spielen: »Wie dem auch sei:
die Probleme der Frauenfrage kamen für mich [...] gar
nicht in Frage.« So arbeitete sie zwar später über ein
in der Kunstgeschichte bislang weniger beachtetes Gebiet
(Schleswig-Holsteinische Malerei), ließ die Frage nach
den Künstlerinnen dabei aber unbeachtet. (5)
Nach Kiel zurückgekehrt, ergaben sich erste Kontakte
zum Kieler Kunstverein durch Besuche seiner
Kupferstich-Sammlung (6) und der von ihm veranstalteten
kleineren Ausstellungen, die als »eher zufällig
zusammengetragene Gruppen von Bildern« in der
sogenannten »Kunstscheune« (7) in der Dänischen Str. 35 gezeigt
wurden. Aus Furcht vor dem »Dasein einer kleinen Malerin
auf dem Dorfe« übernahm Lilli Martius die ihr sehr bald
angebotene Verwaltung des Kupferstichkabinetts am 1.
Januar 1923. Eine Arbeit, die die Ordnung und Verwaltung
der graphischen Sammlung beinhaltete und nach eigenem
Bekunden ihrem Wesen zu entsprechen schien: »[...] ich
habe es immer als glücklich empfunden in einem kleinen
Museum und nicht als winziges Glied in einem
Riesenbetrieb zu sein.«
Auf Drängen des Kunstvereins und des
Kunsthistorischen Institutes (vmtl. Haseloff) begann sie
1926 – ohne Lateinkenntnisse und mit 41 Jahren
– das Studium der Kunstgeschichte, das sie 1929 mit
der Dissertation über das Thema »Die Franziskuslegende
in der Oberkirche von San Francesco« abschloß. (8) Es erscheint
nur folgerichtig, daß sie laut Vorlesungsverzeichnis zum
Sommersemester 1933 vom Kultusministerium die
»Beauftragung zur Abhaltung von Kursen« (9) für Studenten
erhielt, die sie mit der Übung zur »Entwicklung der
Maltechnik« (10)
begann.
Die Vorlesungsverzeichnisse der nachfolgenden Jahre
bis 1953 zeigen, daß Lilli Martius in ihren Übungen
hauptsächlich die »Technik und die Geschichte der
Technik der druckgraphischen Künste« vermitteln sollte.
Eine wahrscheinlich noch aus der Berliner Zeit in ihrem
Besitz befindliche Druckerpresse gab den Studenten
während dieser Zeit die Möglichkeit zu praktischen
Arbeiten (11),
welches die Attraktivität dieser Übungen besser
verstehen läßt.
In den ausgehenden dreißiger Jahren führten die
politische Situation und die Parteilosigkeit von Lilli
Martius zu starken finanziellen Engpässen, so daß sie
ihr eigentliches Forschungsgebiet – die italienische
Malerei des Trecento – verließ und »[...] von nun
an die intensivere Beschäftigung mit den
Schleswig-Holsteinischen Künstlern zum Ziel hat, da
[sie] die Nutzung der dänischen Nachbarschaft für
leichter durchführbar hält« (12).
Der Auslagerung des Kunstvereins und der Schließung
der Christian-Albrechts-Universität im Jahre 1944 folgte
nach Kriegsende die Wiederaufnahme eines eingeschränkten
Universitätsbetriebes im Priorhaus des Schleswiger
Johannisklosters. Lilli Martius übernahm
vertretungsweise die kunsthistorische Professur (13); ihr
angekündigtes, aber wegen Raummangels nicht abgehaltenes
Seminar hätte sich mit der Zeit des »Klassizismus und
der Romantik« befassen sollen. Dazu hatte sie sich die
»nötige Romantik« mit Hilfe eines Bollerwagens aus den
z.T. in Schuby ausgelagerten Institutsbeständen
beschafft. Stattdessen wurde sie von der Aufgabe in
Anspruch genommen, die auf sieben Ausweichstellen
verteilten Bestände der Kunsthalle, des Kunstvereins und
des Kunsthistorischen Institutes wieder nach Kiel zu
bringen. Obwohl die Universitätsverwaltung auf Lilli
Martius' Nachfrage nach einem Transportmittel mit der
Feststellung reagierte: »Was wollen Sie, Bücher Bilder?
Kartoffeln sind wichtiger. Gehen Sie zum Engländer«,
konnte sie bis Mitte August 1945 aufgrund »meiner
Situation als Frau bei den Engländern, [die mir] sehr
geholfen hat«, die Bestände der Kunsthalle, ebenso wie
die Bibliothek und die Photosammlung des
Kunsthistorischen Institutes nach Kiel zurückführen.
Bei der Rückführung eines erheblichen Teiles der in der
Kirche von Altenkrempe untergebrachten
Bibliotheksbestände lernt sie die Schwierigkeiten eines
‚lebhaften Leihverkehrs' kennen: Die Bücher waren
hier seit 1941 in einem Seitenschiff zur öffentlichen
Benutzung in Regalen aufgestellt und erfreuten sich dort
eines regen Zuspruches der Altenkremper Bevölkerung. Die
Unterbringung der wieder zusammengetragenen Bestände
erfolgte zunächst im Keller der Kunsthalle, in der bei
Wiederaufnahme des Universitätsbetriebes dem
Kunsthistorischen und dem Archälogischen Institut sowie
dem Geschäftszimmer des Kunstvereins ein kleiner Raum
von 16 m (14)
zur Verfügung stand: Hier fanden auch die »[...]
Übungen [von Lilli Martius] statt, wofür freilich die
anderen ausziehen mußten«.
Mit Beginn des Jahres 1947 trat für Lilli Martius mit
der Ernennung zur Kustodin der Kieler Kunsthalle ihre
eigentliche Tätigkeit am Museum neben der Lehre wieder
stärker in den Vordergrund: So konzipierte sie in diesem
Jahr Ausstellungen zu den Werken von Käthe Kollwitz,
Ernst Barlach und Emil Nolde. Erst ihre Pensionierung
1951 beendete diese Zusammenarbeit (15), während
sie ihre Unterrichtstätigkeit am kunsthistorischen
Institut bis zum Sommersemester 1953 fortsetzte. Mit
ihrem letzten Proseminar »Bestimmungsübungen zur
Zeichenkunst der großen Meister Deutschlands und
Italiens« kehrte sie dabei an den kunsthistorischen
Ausgangspunkt ihrer Dissertation zurück.
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Anmerkungen
1) Dieses und alle
weiteren unbezeichneten Zitate sind den Erinnerungen
Lilli Martius, Erlebtes. Verwandten und Freunden
erzählt, Kiel 1970 entnommen. Zum Schrifttum von
Lilli Martius, auf welches hier nicht näher eingegangen
werden kann, siehe: Friedel Stender, Bibliographie zu
wissenschaftlichen Veröffentlichungen der
Buchbesprechungen, Kataloge, Referate u.
Zeitungsaufsätze von Dr. Lilli Martius, in:
Nordelbingen 34/1965, S. 16–17 und die Ergänzungen
zur Bibliographie von Lilli Martius für die Jahre
1965–75, in: Nordelbingen 44/1975, S.
77–78.
2) Beide
Künstler waren regional bekannte Landschafts- und
Marinemaler. Stoltenberg, seit 1889 in Kiel tätig, ist
1892 im Gespräch für die Neubesetzung des akademischen
Zeichenlehrers: vgl. den Beitrag von Uwe Albrecht, Vom
Universitätszeichenlehrer zum Lehrstuhl für
Kunstgeschichte in diesem Band, S. 21. Siehe ferner:
Lilli Martius, Die Schleswig-Holsteinische Malerei im
19. Jahrhundert, Neumünster 1956.
3) Käthe
Kollwitz war zwar seit 1897 an der Zeichen- und Malschule
des »Vereins der Berliner Künstlerinnen, der erst kurz
vor der Reichsgründung ins Leben gerufen worden [war]«
als Lehrerin für Graphik und Zeichnen tätig, verläßt
die Schule aber bereits 1903. Hierzu grundlegend: Profession
ohne Tradition. 125 Jahre Verein der Berliner
Künstlerinnen, Ausst. Kat. Berlin 1992.
4) Brigitte
Schubert-Riese, Lotte Hegewisch, Lilli Martius,
Gertrud Völker. Drei Frauenbilder aus der Kieler
Stadtgeschichte, in: Mitteilungen der Gesellschaft
für Kieler Stadtgeschichte 1987, S. 12.
5) Das
emanzipatorische Gedankengut, welches B. Schubert-Riese
Lilli Martius unterstellt, wird unseres Erachtens aus den
Erinnerungen von Lilli Martius, Erlebtes. Verwandten
und Freunden erzählt, a.a.O., in dieser Intention
nicht deutlich.
6) Zur
Gründungsgeschichte der graphischen Sammlung siehe:
Lilli Martius, 125 Jahre Schleswig-Holsteinischer
Kunstverein 1843–1968, Neumünster 1968.
7) Die
»Kunstscheune« war ein »[...] Fachwerkbau, der nach
den Plänen einer Turnhalle [...] errichtet wurde [...],
gegenüber dem Katzenstall auf dem Hinterhof der
Anatomie«, Lilli Martius, ebd., S. 35.
8) Die
Drucklegung erfolgt im Jahr 1932.
9)
Vorlesungsverzeichnis SS 1933.
10) Ebd.
11) Vgl.
Olaf Klose, Lilli Martius. 27. Juli 1885 – 14.
Dezember 1976, in: Nordelbingen 46/1977, S.
7–10.
12)
Hieraus sollte ihre Veröffentlichung Die
Schleswig-Holsteinische Malerei im 19. Jahrhundert,
Neumünster 1956 hervorgehen.
13) Die
Arbeit von Irmgard Schlepps, Stuckornamentik und
Raumgestaltung in Schleswig-Holstein vom Ausgang des 16.
Jahrhunderts bis ca. 1815, Kiel 1945, die B.
Schubert-Riese, a.a.O., S. 13, Lilli Martius zuweist,
wurde, wie die Einsichtnahme in die Akten des
Kunsthistorischen Institutes bestätigte, bereits von
Richard Sedlmaier angenommen.
14) Die
Bindung an die Kunsthalle bleibt erhalten, wie spätere
Publikationen zeigen, so z.B. der Katalog Zur
Geschichte der Gemäldegalerie in der Kunsthalle zu Kiel,
Kiel 1958; vgl. Anm. 1 und die Bibliographie a.a.O.
15) Noch
im Jahre 1951 erhält die Fünfundsechzigjährige die
Universitätsmedaillie; zum 70. Geburtstag wird sie
Ehrenmitglied des Städtischen Kunstvereins und zur
Ehrenbürgerin der Universität ernannt, 1962 erhält sie
den Kulturpreis der Stadt Kiel, acht Jahre später, 1970,
wird sie zur Honorarprofessorin ernannt und 1975 erhält
sie mit dem »Danebrog« ihre letzte Auszeichnung.
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