Carl Neumann wurde am 1. Juni 1860 in Mannheim als
Sohn einer begüterten jüdischen Kaufmannsfamilie
geboren. (1) Er
begann sein Studium 1878/79 in Heidelberg mit dem
Studienschwerpunkt Geschichte. Im Sommer 1880 wechselte
er nach Berlin, dem damaligen Zentrum der
Geschichtswissenschaft in Deutschland. Dort hörte er
Vorlesungen bei Nitsch und Treitschke und war als
Mitarbeiter von Georg Waitz an der Herausgabe der Monumenta
Historica Germaniae beteiligt.
1882 kehrte er nach Heidelberg zurück, wo er im April
desselben Jahres über »Bernhard von Clairvaux und die
Anfänge des zweiten Kreuzzuges« promoviert wurde. Im
Anschluß an die Promotion unternahm Neumann eine Reise
in die Schweiz. In Basel erhielt er die Zulassung zu den
Vorlesungen Jacob Burckhardts, der in ihm – nach
eigenen Angaben – den »Durchbruch der Neigung für
kunsthistorische Dinge« bewirkte. Er »verfiel völlig
der Anziehung der Kunst, und zwar der
wirklichkeitsfremdesten, der Antike«. (2)
Diese Begeisterung für die Antike veranlaßte ihn, im
Sommer 1882 nach München überzuwechseln, um seine
Studien in der Glyptothek fortzusetzen. Daneben baute
Neumann erste Beziehungen zur zeitgenössischen Kunst
auf, die ein weiteres Thema seiner zukünftigen Arbeit
werden sollte. Die direkte Anteilnahme an dem Geschehen
in den Ateliers und die Auseinandersetzung mit den
Künstlern galt ihm stets als »Amulett gegen die
Schreibtischtheorien der Gelehrtenstube«. (3) In seinem Buch
»Der Kampf um die neue Kunst« (1892) legt er seine
diesbezüglichen Überlegungen dar. Seine Vorliebe galt
in dieser Zeit den klassizistischen Werken Anselm
Feuerbachs, mit dessen Mutter Henriette und dessen
späteren Biographen Julius Allgeyer ihn eine jahrelange
Freundschaft verband.
1884–87 unternahm Carl Neumann mehrere Reisen
nach Italien, die er in Tagebüchern dokumentierte. (4) Diese Reisen
führten ihn, der im jüdischen Glauben erzogen worden
war, zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der
christlichen Religion, was ihn 1887 dazu veranlaßte, zum
Protestantismus zu konvertieren.
1893/94 erarbeitete er seine Habilitationsschrift
über die »Weltstellung des Byzantinischen Reiches vor
den Kreuzzügen«, woraufhin ihm am 26. Mai 1894 in
Heidelberg die venia legendi für Geschichte und
Kunstgeschichte erteilt wurde. Seine historischen Themen
siedelte er im Bereich Spätzeit der Antike sowie Kultur
des Mittelalters an. In seinen kunsthistorischen
Veranstaltungen begann er – entgegen dem sonst
üblichen Verfahren – mit Ausführungen zur
zeitgenössischen Kunst, um dann epochenweise rückwärts
zu gehen. Kennzeichen dieser Periode Neumanns ist sein
Bestreben, Kunstgeschichte eng mit der Gegenwartskunst zu
verknüpfen. (5)
In seinen autobiographischen Aufzeichnungen deutet
Neumann eine Problematik an, die, so auch seine
Biographin Fink-Madera, die durchgängige Tragik seines
Lebens ist: Ende der 1880er Jahre beginnt bei ihm eine
psychische Erkrankung, die sich – manisch-depressiv
– in zahlreichen Suizidversuchen, monatelangen
Klinikaufenthalten und damit verbundenen
Arbeitsausfällen äußert. (6) Kurz vor der Jahrhundertwende –
am Ende einer solchen Rekonvaleszenz – kam Neumann
an den »Wendepunkt [seines] Lebens«: In der
Bildergalerie in Kassel sah er den »Jacobssegen«
Rembrandts, dessen Wirkung ihn überwältigte, ihn »auf
den Rücken warf und [seinem] ganzen höheren Leben eine
neue Bahn wies«. (7)
Ihn faszinierte dabei weniger die technische Virtuosität
des Malers, denn die »Sehsinnlichkeit« seiner Gemälde,
die von »Seele zu Seele spricht und weit über das
Sinnlich-Faßbare hinausgeht.« (8)
Neumann beschreibt seine Situation folgendermaßen:
»Das Rembrandtproblem erschien mir damals mehr in
Form eines Shakespeareproblems. Ich hatte ein stilles
Grauen vor einer Kunst, die die maskenlose Wirklichkeit
nie vergessen ließ, die dem Häßlichen und Bösen
soviel Raum gab, und deren Erbarmungslosigkeit ‚Maß
und Harmonie' fehle. Kurz, ich plätscherte mit holder
Oberflächlichkeit in den
romanisch-antik-klassizistischen Gewässern, als normales
Produkt deutscher Durchschnittserziehung, die das
‚vornehm' Fremde dem Heimatlich-Nordischen vorzieht
[...] Dieser durch eine Schulmeisterästhetik
gassenhauerartig trivialisierte Geschmack war bis dahin
auch in ziemlichem Umfang der meine.« (9)
Nach diesem »Rembrandt-Erlebnis« (10) widmete
Neumann sich voller Begeisterung der Kunst des 17.
Jahrhunderts, die er antithetisch der
»Renaissancekultur« entgegensetzte. (11) 1901
publizierte er zum ersten Mal seine
Rembrandt-Monographie, die seinen Ruf als
Rembrandtforscher begründete.
1903–04 lehrte Neumann als Vertreter des
Renaissanceforschers Robert Vischer an der Göttinger
Universität. Das Verhältnis zwischen den Kollegen blieb
aufgrund fachlicher Differenzen stets gespannt, so daß
Neumann Göttingen verlassen mußte.
1904 übernahm der Kieler Professor Adelbert Matthaei
den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der neuen
Technischen Hochschule in Danzig, und der Kieler
Philosophischen Fakultät gelang es am 1. Oktober 1904,
Carl Neumann als persönlichen Ordinarius zu
verpflichten. In einem Schreiben der Fakultät an das
Kultusministerium in Berlin heißt es:
»[...] wir schlagen in erster Linie den
außerordentlichen Prof. Carl Neumann in Göttingen vor
[...] Er ist unbestreitbar ein Mann von reichem Wissen,
von scharfer Beobachtungsgabe, von eindringendem und
dabei massvollem Urteil. Sein geistreicher und
formvollendeter Vortrag wird sehr anerkannt.« (12)
Das Angebot seiner Veranstaltungen in Kiel war sehr
breit gefächert. Aus den Vorlesungsverzeichnissen der
Christian-Albrechts-Universität geht hervor, daß
Neumann im Wintersemester 1904/05 mit einer
3–stündigen Vorlesung über »Deutsche Kunst und
Kultur im Mittelalter« begann – wie überhaupt
seine Betonung stets auf dem »Nationalen in der
deutschstämmigen Kunst« lag (13). In den darauffolgenden Semestern
aber las er auch über »Französische Kunst und Kultur
im 18. und 19. Jahrhundert«, »Geschichte der
italienischen Kunst« oder »Geschichte der Malerei nach
ihren Arten«. Besonderen Erfolg konnte eine Vorlesung
über Rembrandt verzeichnen, an der über 200 Hörer
teilnahmen, eine damals für Kiel ausgesprochen hohe
Zahl. Hinzu kamen kunsthistorische Übungen und
Exkursionen in die nähere Umgebung Kiels.
Trotz der Vielfalt seines Angebotes fanden die
Veranstaltungen Neumanns zunächst nicht das von ihm
gewünschte studentische Interesse. Er nutzte daher die
Kieler Zeit, seinen Wirkungskreis auszudehnen. So war er
ab 1907 Erster Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen
Kunstvereins (14)
und arrangierte zahlreiche Ausstellungen im Kunstmuseum.
Im übrigen kam er Vortragsverpflichtungen in Köln,
Hamburg, Göttingen und Kassel nach. Die Stellung
Neumanns in Kiel gab ihm einen gewissen Einfluß auf
kulturpolitische Entscheidungen, den er besonders bei
zwei Projekten nutzte: dem Umbau der Universitätsaula
sowie dem Neubau der Kunsthalle. (15)
Bei den zunächst rein farblichen Umgestaltungsplänen
der Aula wandte sich Neumann gegen den Vorschlag, ein
Gemälde mit historischem Inhalt zu projektieren und
schlug stattdessen eine Landschaftsdekoration vor, deren
Motiv der schleswig-holsteinischen Landschaft entnommen
sein sollte. Um der Notwendigkeit gedanklicher Anregung
Rechnung zu tragen, empfahl er, diese Landschaft mit
Szenen aus dem Leben des holsteinischen Bischofs Vicelin
zu kombinieren, womit man auch einer Nutzung der Aula
für gottesdienstliche Zwecke gerecht geworden wäre.
1906 wurde anläßlich einer Veranstaltung deutlich, daß
die Akustik der Aula einer größeren Veranstaltung nicht
genügte, so daß der Raum auch architektonisch
umgestaltet werden mußte. Neumann nahm an dieser
Diskussion regen Anteil, worauf an dieser Stelle jedoch
nicht näher eingegangen werden soll. (16) Die
projektierten Arbeiten sind während seiner Kieler Zeit
nicht zur Ausführung gekommen.
Anders dagegen sah es bei dem Neubau des Kunstmuseums
aus – nach Neumann ein »Abenteuer« (17), – der
notwenig wurde, da das alte Ausstellungsgebäude des
Kunstvereins auf dem Schloßgelände 1888 abgerissen
worden war. Als Grundstück stand das Gelände von
»Klein Elmeloo« am Düsternbrooker Weg zur Verfügung,
das dem Kunstverein von Lotte Hegewisch testamentarisch
vermacht worden war.
Das projektierte Gebäude – auf dessen einzelne
Planungsphasen bzw. Ausführung in der Literatur
eingegangen wird (18)
– bot Platz für das Kunsthistorische Institut und
das Archäologische Institut mit seiner
Gipsabgußsammlung. Auch hier nutzte Neumann seinen
Einfluß auf die Entscheidungen der Kunstkommission,
indem er z.B. 1906 auf einer Planänderung bestand, die
die Vergrößerung des projektierten Hörsaales vorsah.
Seinem Antrag wurde stattgegeben, da er belegen konnte,
daß die Zahl seiner Zuhörer (über 200 für die
Rembrandtvorlesung) weit über den zur Verfügung
stehenden Platz hinausging und auch das Auditorium
maximum nicht genug Raum bot. (19) 1907 wurde mit den Bauarbeiten
begonnen. Im Februar 1908 nahm die Kommission den
Vorschlag Neumanns an, dem Haus den Namen »Kunsthalle«
zu geben, da dieser allen darin befindlichen
Institutionen gerecht wurde. Nur dieser Name sollte in
goldenen Lettern groß im Fries angebracht werden, da
Neumann eine große Zahl auffälliger Schriften als
»unmonumental« empfand. (20)
Am 21. Februar 1909 legte Neumann eine Hausordnung vor
und am 15. November 1909 wurde der Neubau feierlich
übergeben. Da die Zahl der geladenen Gäste weit über
die Kapazität des Festsaales hinausging, strich Neumann
kurzerhand alle Studenten, die Chorgesangsbeteiligung
sowie alle begleitenden Damen von der Liste, soweit sie
nicht Ehefrauen von Fakultätsmitgliedern waren. (21) Während
der Feier eröffnete Neumann eine von ihm organisierte
Ausstellung ausschließlich mit Werken niederdeutscher
und schleswig-holsteinischer Künstler.
Um die bis dato schlichte Freitreppe der Kunsthalle
mit Figurenschmuck versehen zu können, begann Neumann,
für seine Vorträge hohe Eintrittsgelder zu verlangen,
aus deren Erlös er schließlich das Projekt finanzieren
konnte. Der Auftrag ging an den deutschen Tierplastiker
August Gaul, der liegende Wisentbullen – als
»germanisches Thema« – vorschlug. Das gesammelte
Budget reichte zunächst nur für eine Skulptur, die im
Herbst 1911 aufgestellt werden konnte. Das Pendant kam
1913 zu Ausführung. Aus einem Brief Neumanns an Gaul
geht hervor, daß das Kieler Publikum Anstoß an den
»Ochsen« nahm, was er mit den Worten kommentierte:
»Natürlich, ein Circuslöwe ist vornehmer.« (22) Carl
Neumann ist damit nach Fink-Madera der »erste
Kunsthistoriker in Deutschland, der es unternahm, ein
Universitätsgebäude mit moderner realistischer Plastik
zu versehen.« (23)
1911 folgte Neumann einem Ruf nach Heidelberg, ein
Entschluß, der ihm nicht leicht gefallen war, obwohl er
sich in Kiel nie richtig eingelebt hatte:
»Der Entschluß ist mir sehr schwer geworden [...]
auch weil die Kieler Stellung, wenn auch mehr außerhalb
des Fakultäts- und Universitätskreises, manches
Anziehende und Lockende bietet. Die Installationen der
neuen Kunsthalle sind weit besser als die mich in
Heidelberg erwarten [...]«. (24)
Neumann blieb bis zu seiner Emeritierung 1929
ordentlicher Professor in Heidelberg. Er siedelte 1934
nach Frankfurt über, wo er am 9.Oktober desselben Jahres
verstarb.
Die kunsthistorische Arbeit Neumanns ist geprägt von
einer nationalistisch- »bodenständigen«
Grundauffassung, die eine bestimmte Richtung der
kunstwissenschaftlichen Forschung des frühen 20.
Jahrhunderts beherrscht. Sie geht davon aus, daß Kunst
nationalspezifisch determiniert ist. In Deutschland
bedeutete dies eine Rückbesinnung auf mittelalterliche
Werte »als geistig-kulturellen Grundstock der
erstarkenden zukünftigen deutschen Nation«. (25) Neumann
sieht Rembrandt als Protagonisten eines nordischen
»Kunstwollens«, das er antithetisch der
Renaissancekultur, und damit auch dem Klassizismus, dem
er sich ja vorher verschrieben hatte, entgegensetzt. Als
Konsequenz beschäftigt sich Neumann in der Folgezeit
unter anderem mit heimatlicher Gegenwartskunst. In seinen
späten Arbeiten überwiegt die Auseinandersetzung mit
der deutschen Kunst des Mittelalters, die er jedoch nicht
mehr publizieren konnte.
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